Die ungleiche Entwicklung der Regionen in der Vormoderne: Das "jüngere Europa" im transkontinentalen Netzwerk

Die ungleiche Entwicklung der Regionen in der Vormoderne: Das "jüngere Europa" im transkontinentalen Netzwerk

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Warschau, Außenstelle Prag
Ort
Prag
Land
Czech Republic
Vom - Bis
04.11.2021 - 05.11.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Mikuláš Zvánovec, Lehrstuhl für deutsche und österreichische Studien, Karlsuniversität Prag

Bereits seit dem Mittelalter zeichnet sich Europa durch Entwicklungsunterschiede aus. Das steigende Interesse der Geschichtswissenschaft an vermeintlich benachteiligten oder weniger fortgeschrittenen Gebieten Europas gegenüber dem „alten Europa“ war der Schwerpunkt der internationalen Tagung, die am 4. und 5. November 2021 in der Prager Außenstelle des Deutschen Historischen Instituts Warschau stattfand. Vor dem Hintergrund der tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die sich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert abspielten, wurde den bereits in der Vormoderne bestehenden Entwicklungsunterschieden in Europa vergleichend nachgegangen. Dabei trug die Zusammensetzung der Vortragenden, die aus Deutschland, Tschechien, Polen sowie Litauen, Norwegen, der Ukraine und Aserbaidschan kamen, zur Vielfalt thematischer und regionaler Aspekte des Themas bei.

DARIUSZ ADAMCZYK vom DHI Warschau erläuterte in seiner Einleitung, dass der Ausgangspunkt der Konferenz das Modell des „jüngeren Europas“ („Młodsza Europa“) von Jerzy Kłoczowski war, das sich auf die Kerngebiete Ostmitteleuropas seit dem frühen Mittelalter bezieht, in einigen Phasen jedoch auch die Rus’ und den Balkan einschließt und bis Skandinavien ausgreift. Aufgabe der Konferenz war es Diskussionen über die Tragfähigkeit dieses Erkenntnismodells zu führen. Diese Diskussionen stützten sich vor allem auf Kritik am Europazentrismus und an dem räumlichen Positivismus Kłoczowskis, da die mangelnde kulturgeschichtliche Problematisierung regionaler Ungleichgewichte zu einem einheitlichen Eindruck vom „alten“ und dem „jüngeren Europa“ gegen Ende des Mittelalters beitrage.

In seinem Abendvortrag beschrieb THOMAS WÜNSCH (Passau) verschiedene Aspekte der europäischen Heterogenität und der Bildung des Ostmitteleuropabegriffes. Dabei konfrontierte er Kłoczowskis Konzept mit einem wahrnehmungsgeschichtlichen Horizont, um seine These bezüglich der Dynamik des „jüngeren Europas“ zu bekräftigen. Homogenen Europa-Bildern wie dem des Papstes Pius II., die allein auf die Abwendung der türkischen Gefahr nach dem Fall Konstantinopels von 1453 zielten, stellte Wünsch die sehr differenzierte Schilderung des Missionars Johannes von Plano Carpini entgegen, der im Jahre 1245 vom Papst von Lyon zum mongolischen Großkhan entsandt wurde. Die bereisten Gebiete stufte Plano Carpini dabei in drei Zonen ab – je nach der wahrgenommenen Andershaftigkeit der kulturellen Praxen, etwa in der Religion, der Gastfreundschaft, der Gefahr bei der Durchreise oder den Kommunikationsproblemen. Wünsch zeigte sich während seines Vortrags vom Erkenntnisgewinn des Konzeptes überzeugt, allerdings unter Anerkennung von dessen Dynamik bzw. Verflüssigung im Sinne von Henryk Samsonowicz.

Im Fokus der Tagung standen insbesondere Interaktionen und Konfrontationen ost- und ostmitteleuropäischer Regionen mit den ökonomisch und gesellschaftlich dynamischen Strukturen des Westens. Prozesse wie die Monetarisierung und der Ausbau von Handelswegen trugen maßgeblich zum kulturellen Austausch und dem teilweisen Verwischen regionaler Unterschiede bei. Zur Eröffnung des ersten Panels zeigte ROMAN ZAORAL (Prag) am Beispiel „kurzlebiger“ Münzen (Denare, Pfennige, Brakteaten) und periodischer Neuprägungen, dass in den weniger entwickelten Regionen Ostmitteleuropas eine spezifische Geldpolitik verbreitet war – im Unterschied zur „alteuropäischen“ Methode der Geldabwertung der „langlebigen“ Währungen im Spätmittelalter. Er zeigte am Beispiel der Länder der böhmischen Krone, dass der Prozess der Monetarisierung, der dort bis zum 14. Jahrhundert dauerte, mit strukturellen Veränderungen und der Entwicklung von Gemeinschaft zur Gesellschaft einherging. Eine Schlüsselrolle bei der Implementierung neuer Gesellschaftsordnungen kam dabei den lokalen Eliten zu, die Kontakte zum „Kerneuropa“ aufbauten. Im Vergleich zwischen Polen und Norwegen verwies WOJTEK JEZIERSKI (Oslo) auf die Rolle regionaler Eliten während der Christianisierung zwischen 1000 und 1300. Mit dem Ziel, die Paradigmen der Europäisierung und des strukturellen Transfers von den Zentren in die Peripherie zu revidieren, stellte Jezierski die Selbstlegitimierungspraxen dieser Eliten und deren Berührungspunkte mit Ideologie und politischer Kultur in den Vordergrund, um dadurch zu zeigen, dass der Schlüssel zum Verständnis der Zentrum-Peripherie-Verhältnisse in der Erkenntnis der Rollen der lokalen Eliten liegt. YURII PRIKCHODKO (Kiew) präsentierte seine Untersuchung des Einflusses des Magdeburger Stadtrechts und der Hansestädte auf den Handel mit Gebieten der heutigen Ukraine, insbesondere zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert. Dieser Einfluss trug zur Stadtentwicklung bei und sorgte u.a. für den Transfer von Militärarchitektur in die Gebiete der heutigen Westukraine (Lutsk, Volodymyr).

Im Panel II kamen weitere Konfrontationen der europäischen Ungleichheiten zur Sprache. VYTAUTAS VOLUNGEVIČIUS (Vilnius) zeigte am Beispiel der Landgemeinden an der Ostseeküste das zurückhaltende Verhältnis der einheimischen Landbevölkerung gegenüber den strukturellen Veränderungen, die im Zuge der Christianisierung durch kirchliche Orden durchgesetzt wurden. Diese schufen eine neue räumliche Ordnung und errichteten die Grundherrschaft als neuer Besitz- und Wirtschaftsform. Volungevičius hob die Rolle der Burgen hervor und zeigte den Gegensatz zwischen einer importierten und verschriftlichten gesellschaftlichen “Matrix” und der langsamen und ambivalenten Entwicklung einer mündlich tradierten Stammesgesellschaft auf. Sowohl das „alte“ als auch das „jüngere“ Europa mit seinen unterschiedlichen kulturellen Modellen war stark von kirchlichen Mechanismen abhängig. MONIKA SACZYŃSKA (Warschau) widmete sich in ihrem Vortrag den gravierenden Unterschieden zwischen den europäischen Regionen „vor dem Papst“, die aus der Analyse von Suppliken an die Pönitentiare hervorgehen. Während sich die Suppliken aus den westlichen Ländern eher auf Eheangelegenheiten (de matrimonialibus) beschränkten, dienten die Bittschriften aus dem polnisch-litauischen Staat zur vielfachen Einholung einer elementaren kulturellen Orientierung. Saczyńska zeigte einen klaren kulturellen Aspekt der Funktionsweise des kanonischen Rechts. Sie teilte ihre Überzeugung, dass sich dies sowohl aus der Jugendlichkeit der christlichen Zivilisationen in Mitteleuropa, als auch aus dem Funktionieren anderer kultureller Modelle im „jüngeren Europa“ ergibt. Die Bedeutung zentraler Institutionen hob auch GRISCHA VERCAMER (Chemnitz) in seinem Vortrag hervor, der dem intensiven Transformationsprozess der Mark Brandenburg gewidmet war. Als eine der schwächsten Regionen des Heiligen Römischen Reiches erlebte Brandenburg trotz einer schwierigen Ausgangssituation im Zusammenhang mit der „Hauptstadtwerdung“ Berlins in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und der Reformationszeit sowie dem Übergang zu einem protestantischen Kurfürstentum in der Hälfte des 16. Jahrhunderts einen enormen Ausbau, der, wie Vercamer zeigte, vom Handeln zentraler Akteure abhängig war.

Im Panel III beschäftigte sich ANDREAS RÜTHER (Bielefeld) mit den Aufzeichnungen des Danziger Kaufmanns Martin Gruneweg (1562-1618), der aufgrund der Vergleiche der von ihm besuchten Städte (z. B. Danzig, Venedig, Adrianopel) die Ungleichheiten zwischen dem „alten“ und dem „jüngeren Europa“ im 16. Jahrhundert offenbar werden ließ. Aus der Perspektive einer preußischen Hansestadt ergibt sich in Hinsicht auf das umgebende Land, aber auch in Hinsicht auf die polnischen Königshöfe in Krakau und Warschau, eine gewisse Überlegenheit. Andererseits würdigte Gruneweg die Metropole Lemberg als Drehscheibe für den Orienthandel. Mit Blick auf das Vorbild Venedig, die Schnittstelle für den Levante-Umschlag, bewertete Gruneweg weiträumige Entwicklungsunterschiede und stellte doch einen gewissen Entwicklungsausgleich fest. Einen ähnlichen vergleichenden Blick auf verschiedene Wirtschaftsräume in Europa gab der Vortrag über das Gebiet des russischen Pomore von HEINRICH NOLTE (Hannover). Nolte zeigte, dass die ungleiche Entwicklung nicht allein durch geographische Gegebenheiten bestimmt war. Es ging im bedeutenden Maße auch um die Hierarchisierung, die neue Ausschließungen und Beschränkungen schuf. Nolte, der den Begriff der „internen Peripherien“ prägte, wies diese Differenzen quer durch die einzelnen Staaten nach. Die Abhängigkeit der Regionen vom allmählichen Transformationsprozess des transkontinentalen ökonomischen Systems und von der Qualität der Handelsrouten wurde schließlich von SHAHIN MUSTAFAYEV (Baku) am Beispiel der ost-aserbaidschanischen Stadt Täbris verdeutlicht. Der Rückgang des internationalen Karawanenhandels führte zum Zerfall traditioneller orientalischer Gesellschaften. Es gab einen allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang der lokalen Gemeinschaft und eine Verarmung der Bauern. Gleichzeitig behielt die Stadt weiterhin ihren Vorteil als wichtiges Zollzentrum auf internationalen Handelsrouten und blieb ein Zentrum für die Umverteilung von Überschussprodukten.

Insgesamt wurden auf der Konferenz die Regionen Ostmitteleuropas vergleichend dargestellt und vielfältige Herangehensweisen verwendet, um die ungleiche Entwicklung zu kontextualisieren. Mit Hilfe dieses Konzeptes können die Unterschiede innerhalb Ostmitteleuropas und zwischen diesem und anderen Regionen erforscht und erklärt werden. Ebenso überwindet das Konzept ehemalige normative und binäre Untersuchungskategorien wie „Fortschritt“ und „Rückständigkeit‘ oder „Zentrum“ und „Peripherie“. Zuletzt vermeidet die Regionalisierung („Provinzialisierung“) Ostmitteleuropas seine Essentialisierung. Außerdem wurde in den Diskussionen die Notwendigkeit von weiteren interdisziplinären Studien bewiesen, die die Geschichtswissenschaft mit anthropologischen, archäologischen und numismatischen Perspektiven verbinden.

Konferenzübersicht.

Begrüßung durch die Organisatoren und Vertreter des Deutschen Historischen Instituts Warschau Dariusz Adamczyk und Zdeněk Nebřenský

_Abendvortrag:
Thomas Wünsch (Passau): Das „Jüngere Europa“: Wo ist es, und wenn ja, wie lange?

Panel I

Roman Zaoral (Prag): Trade, Monetization and Cultural Exchange: Bohemia, Venice and Flanders during the Later Middle Ages

Wojtek Jezierski (Oslo): Symbolic Resources and Political Structures on the Periphery: Legitimization of the Elites in Poland and Norway, c. 1000–1300

Bohdan Berezenko / Yurii Prykhodko (Kiew): Influence of German (Magdeburg) Law and German Communities on Cooperation of Medieval Ukraine with the Hanseatic League

Panel II

Vytautas Volungevičius (Vilnius): Der Bauer im östlichen Ostseeraum des 13.–15. Jahrhunderts zwischen inneren und äußeren Spannungen

Monika Saczyńska (Warschau): Das „jüngere Europa“ vor dem Papst – universelles Recht auf unterschiedliche Weise. Beispiel der Suppliken zur Apostolischen Pönitentiarie aus der Kirchenprovinz Gnesen im 15. Jahrhundert

Grischa Vercamer (Chemnitz): Die Mark Brandenburg im 15./16. Jahrhundert – eine retardierte Region holt auf

Panel III

Andreas Rüther (Bielefeld): Maßstab und Vergleich. Preußen in den Aufzeichnungen des Danziger Kaufmannssohns Martin Gruneweg OP (1562–1615)

Hans-Heinrich Nolte (Hannover): The Russian Pomore in the 16th and 17th Centuries: Internal Periphery and Route for Global Trade

Shahin Mustafayev (Baku): The Taxation Rate of Urban Center and the Surrounding Rural Periphery: Tabriz Province According to the Ottoman Tax Registry of 1727

Abschlussdiskussion


Redaktion
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Region(en)
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
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